Was macht ein Werk aus, das sich eine spätere Generation zum Ausgangspunkt für musikalische und tänzerische Gestaltungsmomente nimmt? Zuerst einmal muss ein solches Werk "halten", es muss dicht und komplex sein, damit Neues daraus hervorgehen kann, das noch Ursprüngliches in sich bewahrt. Wir haben auf allen Ebenen von Le sacre du printemps (1913), d.h. in Partitur, Choreographie und Inszenierung Prinzipien herausgeschält, die wir für unser Projekt Sacre Material (UA tanz2000.at) formuliert haben, um zu neuen Ergebnissen zu kommen.
Da gibt es zum Beispiel grafische Positionen in der Bewegung, die aus einer besonderen - nämlich nicht natürlichen oder organischen - Körperorganisation entstanden sind: Diese Posen sind kulturelles Allgemeingut, weil Bewegung die längste Zeit in der Geschichte des Tanzes eben nur als auf Bildern festgehaltene Pose weiterbestehen konnte. Doch ist diese Pose nur ein festgehaltener flüchtiger Zeitpunkt im Bewegungsablauf, dem bestimme Prinzipien zugrunde liegen. Wir haben einige dieser Prinzipien zum Leitmotiv für unsere Bewegungsforschung genommen: Asymmetrie, gegenläufige gleichzeitige Bewegungsrichtungen, rhythmische Überlagerungen, eingeschränkter Bewegungsradius, ungewöhnliche Bewegungskoordination und Präzision.
Le sacre du printemps von Strawinsky/Nijinsky/Röhrich (1913) erzählt den Ablauf eines heidnischen Opferrituals. Wir hätten jetzt alle möglichen aktuellen Opferungen inszenatorisch andeuten können, bei denen Akteure an ihre Grenzen gehen und ein Publikum zuschaut: Stierkämpfe, Schiabfahrtsläufe, Autorennen, Big Brother, Schlingensief Container. Wir haben uns dafür entschieden, die allen diesen Opferungen zugrundeliegende rituelle Struktur pur zu übernehmen: Drei Tänzerinnen, jede für sich allein, ausgesetzt einem Publikum, das ganz nahe an der Aktion ist.
So beschwört unser Sacre Material eine verwandtschaftliche Beziehung der Ähnlichkeit mit dem ursprünglichen Werk, die auf diesen prinzipiellen Überlegungen der Choreographie, der Komposition, des Raumes und der Dramaturgie beruht.
Sacre Material versteht sich als eine musikalisch-choreografische Versuchsanordnung, die auf der Auseinandersetzung mit Le sacre du printemps von Igor Strawinsky und Vaclav Nijinski basiert. Teile der Originalpartitur wechseln ab mit Kompositionen von Max Nagl für verschiedene Percussionsinstrumente - vom klassischen Schlagwerk bis zu Tablas und Spielzeugen - und werden von Mike Casey (Sound Design) und Philipp Harnoncourt (Raum und Licht) eigens für den jeweiligen Performance-Ort installiert.
Diese akustisch-visuelle Einrichtung und die Anwesenheit des Publikums schaffen die Umgebung für eine Serie von weiblichen Soli. Die drei Tänzerinnen Keren Levi (Israel), Pernille Bonkan (Norwegen) und Liz Roche (Irland) gehen mit Hilfe von choreografischen und improvisatorischen Anleitungen an ihre physischen und mentalen Grenzen. Der Ausgangspunkt ist nicht eine gefühlsmäßige Affinität oder Interpretation des Opferthemas, sondern die Analyse des Originalwerkes von 1913 und der gesellschaftlichen Realität heute.