14.März 2021

Vor genau 30 Jahren, am 14.März 1991, hatte ich meine erste Premiere in Amsterdam. Aus Anlass der dreißig Jahre führte Ulrike Kuner von der IG Freie Theaterarbeit mit mir ein Interview für die Zeitschrift gift:  Darüber, was mich antreibt, über meine Projekte, meine Arbeitsweise, meinen künstlerischen Kosmos.

 

Ulrike Kuner: Das erste Stück in deiner Werkliste ist von 1991 und trägt den Titel Talkative Concepts of Physical Love. Wie siehst du davon ausgehend deine Entwicklung?

 

Christine Gaigg: Talkative Concepts of Physical Love war eine Arbeit im Rahmen meiner Studienzeit an der School for New Dance Development Amsterdam. Im Prinzip sind da schon die inhaltlichen Schwerpunkte späterer Arbeiten drinnen: Sexualität, das Reale. Dazwischen – von 2000 bis Anfang der 2010er Jahre - gab es eine Phase, die ich als strukturelle Choreografie bezeichne, in Kollaboration mit Komponisten. Zuerst mit Max Nagl, Sacre Material (2000) und ADEBAR/KUBELKA (2003), dann mit Bernhard Lang die TRIKE-Serie und Maschinenhalle#1, womit wir 2010 den steirischen herbst eröffnet haben.

 

Anfang der 2010er Jahre begann ich dann mit dem, was ich „Performance Essay“ nenne, die medien- und gesellschaftskritischen Performances wie DeSacre! Pussy Riot meets Vaslav Nijinsky oder Maybe the way you made love twenty years ago is the answer?. 

Ich vergleiche meine verschiedenen Phasen gerne mit Filmgattungen: Experimentalfilm vs. Dokumentarfilm. In der strukturellen Phase beschäftigte ich mich mit dem Material an sich, mit Bewegungsabschnitten, so wie sich Experimentalfilm mit dem Filmkader beschäftigt, und mit der Organisation des Materials. Meine Arbeitsweise war ja tatsächlich entlehnt von den Experimentalfilmern Peter Kubelka und Martin Arnold. Für die Viennale habe ich Peter Kubelkas einminütigen Film „Adebar“(1957) in das Bühnenformat ADEBAR/KUBELKA übertragen. Diese Choreografie ist so unglaublich komplex, dass man beim Zuschauen nie und nimmer drauf kommt, wie das funktioniert, es ist hypnotisch. In der TRIKE-Serie, meiner Zusammenarbeit mit Bernhard Lang, ging es uns darum, eine Loop-Grammatik zu erarbeiten, die Klang und Bewegung aufeinander bezieht. Das hatte was von Cage und Cunningham.

 

Hingegen lässt sich, was ich jetzt mache, mit Dokumentarfilm vergleichen. Ich starte von einem gesellschaftspolitischen Anliegen, einem Thema. Ich recherchiere, ich suche nach dem geeigneten Format. Es ist eine Form dokumentarischen Theaters.

 

UK: Über die dreißig Jahre: Was macht dich als Künstlerin aus?

 

CG: Ich würde sagen, von Anfang an die philosophische Betrachtung von Themen in Verbindung mit einem sehr persönlichen Zugang, der gesellschaftspolitische Anspruch, die Suche nach dem Relevanten. Die Bereitschaft, durch einen Prozess zu gehen. Und ich denke, dass ich mutig bin. Das, finde ich, ist eigentlich meine wichtigste Eigenschaft.

 

UK: Was treibt dich dazu, das Ganze als Bühnenstücke zu machen?

 

CG: Performance hat durch die Live Körperlichkeit einen Effekt, den es sonst nirgends gibt, nicht in der Literatur, nicht im Film.

 

UK: Wo denkst du das Publikum mit?

 

CG: Das hat sich über die Jahre radikal entwickelt bei mir. Jetzt durch Corona ist alles unterbrochen, aber bis vor Corona konnte ich mir nicht mehr vorstellen etwas zu machen, was nicht das Publikum auf eine wechselseitige Weise einbezieht. Also nicht nur, dass die Performance die Körper der ZuschauerInnen involviert, sondern auch umgekehrt, dass ZuschauerInnen auf PerformerInnen einwirken können. Tatsächlich habe ich in den dreißig Jahren kaum frontale Stücke gemacht, die kann ich an einer Hand abzählen, bei den anderen ist das Publikum theatrales Subjekt. Maschinenhalle#1 könnte man als immersives Konzert bezeichnen. 

 

UK: Ich fand Maschinenhalle#1 wahnsinnig beeindruckend. Für mich als Zuseherin war es so mitnehmend, weil man ja in diesem Maschinengeschehen drin war. Man schaut nicht mehr aufs Werk drauf, sondern ist drinnen.

 

CG: Man ist drinnen und man trägt zum Werk bei. Das war vorher auch schon so bei meiner Inszenierung von Elfriede Jelineks Über Tiere (Schweizer Erstaufführung 2007) und davor bei Sacre Material, 2001 die erste öffentliche Bespielung des Museumsquartier-Hofs. In diesen großen Formaten bewegt sich das Publikum frei und kann ständig Position und Blickwinkel ändern. Ja, wir waren alle sehr glücklich mit Maschinenhalle#1 und wollten ein Nachfolgeprojekt in so einer ähnlichen Größenordnung machen. Zwei Jahre lang versuchten wir, interessante Räume und interessierte Veranstalter zu finden. Letzteres ist uns nicht gelungen. So hat sich diese Zusammenarbeit aufgelöst.

 

UK: Wie würdest du die Kollaboration beschreiben und wer hatte da welche Rolle?

 

CG: Jeder hatte die Rolle seiner Kompetenz. Es war ein Kollektiv in dem Sinn, dass keine noch so kleine Entscheidung getroffen werden konnte, ohne dass die anderen involviert waren. Jeder aus seiner Warte heraus: Bernhard Lang Komposition, Winfried Ritsch Programmierung und Automaten-Klaviere, Philipp Harnoncourt Raum und Licht, ich Choreografie.

 

UK: Aber es war dein Konzept?

CG: Nein, im Fall von Maschinenhalle#1 war es eine gemeinsame Entwicklung. Die ging über die TRIKE-Serie. Bernhard und ich kamen zusammen aufgrund unserer affinen Arbeitsweisen. Bei TRIKE kann man noch sagen, dass es mein Stück ist. Danach hat mir Bernhard den Loop-Generator gezeigt, das ist die Technologie, die sie am Institut für Elektronische Musik und Akustik in Graz entwickelt haben. Ich war am Anfang extrem skeptisch, oft ist es ja ein Rückschritt, weil man mit der Technologie Dinge macht, die man ohne Technologie als altmodisch oder nicht relevant empfinden würde. Bei Interface Technologie dauert es, bis man gefunden hat worum es geht, was genau die Schnittstelle ist und was sie können soll.

 

Es wirkt vielleicht so, als ob die Metallplatten immer schon die grundlegende Idee für die Maschinenhalle gewesen wären, aber das war ein langer Prozess. In der TRIKE-Serie setzte ich noch die Plexiglasplatten ein, die vom Bühnenbild von ADEBAR/KUBELKA stammen, wo die TänzerInnen auf durchsichtigem von unten beleuchtetem Boden tanzen (dieselben Plexiglasplatten sind bis heute in fünf Produktionen auf völlig unterschiedliche Weise im Einsatz – Nachhaltigkeit rules!). Allerdings rein visuell, Plexiglas ist kein Material, das Sound leitet. Messing aber schon, und Winfried Ritsch hatte Messingplatten in seinem Studio. Bevor wir V-Trike gezeigt haben, das war zum ersten Mal 2007 im Kaaitheater Brüssel, haben wir ein Jahr lang herum getan, worum es geht in dieser Verbindung von Metallplatte, Bewegung und Video Projektion. Von außen kann man nicht sagen, wer wen steuert - eine gesellschaftliche Analogie. Was diese Arbeiten auszeichnet, alle, also TRIKE, V-Trike, Maschinenhalle#1, ist die beinharte Reduktion auf das Wesentliche.

 

UK: Wie kommst du zu den Themen?

 

CG: Es ist eine Mischung aus persönlichem Erleben und Gesellschafts- und Medienkritik. Allerdings, solange ich noch rein tänzerisch unterwegs war, konnte ich das, was mich jetzt umtreibt, nämlich zum Denken anzuregen und Debatten zu starten, gar nicht bewirken. In Rough Trades (1998) zum Beispiel ging es um den Fall Tibor Foco. Da war viel Recherche dahinter, zu Justizirrtum, Geldwäsche, Polizei und Prostitution. Meine Überlegungen übersetzte ich in Tanz. Im Endeffekt hat kein Mensch es wirklich verstanden, da war die Recherche eigentlich vergeudet.

 

Das zwölfminütige sadomasochistische Männerduett The Time Falling Bodies Take to Light (1998) war mein Durchbruch hier in Wien. Es ist so was wie die Keimzelle für meine späteren Performances mit sexuellen Themen. Nach und nach hat sich das mehr herauskristallisiert. Als mir das Theater am Neumarkt Zürich anbot, Über Tiere von Elfriede Jelinek zu inszenieren, habe ich das gemacht aufgrund meines Interesses an Sexualität und Abgründen, und nicht, um moralische Urteile zu befestigen. Die Jelineksche Textfläche für einen rhythmisierten orchestrierten Into-Your-Face Raum zu nutzen, das hat super funktioniert.

 

Ein einschneidendes Erlebnis war für mich 2012 die Veranstaltung des steirischen herbst, „Truth is Concrete“ an der Schnittstelle von Kunst und Aktivismus. Da habe ich kapiert, dass es möglich ist, mit Kunst gesellschaftspolitisch aufklärerisch zu wirken. Das war der Anstoß für DeSacre!

 

UK: DeSacre! habe ich in vielen Settings und Kirchen gesehen, das war unglaublich.

 

CG: 2013 bekam ich die Gelegenheit, auf Einladung der Bundespräsidentschaftskanzlei und des Tanzquartiers, die Kapelle in der Hofburg zu bespielen. Als ich bei „Truth is Concrete“ zwei russische Künstler über die Aktion von Pussy Riot als paradigmatischen Fall zeitgenössischer Kunst palavern hörte, wurde ich stutzig. Das hatte ich nämlich in einem Falter Artikel von <st1:personname w:st="on">Erich Klein</st1:personname> ganz anders gelesen, laut ihm hatte sich die Moskauer Kunstszene zur Pussy Riot Aktion schweigend bis zynisch verhalten. Darüber wollte ich mehr herausfinden. Außerdem, da ich einen Kirchenraum zur Verfügung hatte, wollte ich ausprobieren, wie das ist mit der Verletzung religiöser Gefühle. Meine Argumentation, also die Herleitung der Gewaltfreiheit mithilfe von Video- und Bewegungsanalyse, sowie die Mikrobezüge zwischen Nijinsky und Pussy Riot, das alles hat sich erst im Probenprozess ergeben. Ein Prozess, der mit ziemlichen Hürden versehen war, die Bundespräsidentschaftskanzlei hat ja nicht damit gerechnet, dass ich ihre Einladung für eine politisch brisante Analyse verwende…

 

UK: Die Formate entwickeln sich also über die Inhalte?

 

CG: Genau. Maybe the way you made love twenty years ago is the answer? ergab sich als Folge meiner Inszenierung von Xaver Bayers Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen am Schauspielhaus Wien. Bei Bayer habe ich mich ja auf den Text drauf gesetzt wie ein Parasit auf einen Wirt und dem Text was Rohes und sexuell Aufgeladenes hinzugefügt, weil ich fand, dass ihm das fehlt.

 

Und damit klar war, dass es mir grundsätzlich um die gesellschaftlichen Veränderungen dem Sexuellen gegenüber geht, habe ich Maybe the way you made love twenty years ago is the answer? gemacht. Das ist sicher mein wichtigstes Stück. Auch weil es so angreifbar ist. Das Format spannt sich auf zwischen der Improvisation einer erotischen Szene, die was von Amateurporno hat, und meinen erzählten Beobachtungen und Erinnerungen. So wird das Publikum angeturnt und gleichzeitig intellektuell gefordert. Solcherart konzipiere ich meine Performance Essays, dass eine Spannung entsteht zwischen der Reflexion und dem sinnlich Emotionalen.

 

UK: Was interessiert dich am Körperlichen? Sexualität sowieso, aber auch wenn man von Maschinenhalle#1 ausgeht, da war man als Besucher ja auch Teil des Organismus, das hat einen doch sehr angeregt, stimuliert, mitgenommen.

 

CG: Das wollten wir in der Maschinenhalle explizit erzeugen, die Klaviere als physische Objekte, die Schwingungen. Ich finde grundsätzlich Tanz, wenn er nicht nur zum Anschauen ist, interessanter. Wenn man als Publikum näher an der Sache ist, geht es auch um die Empfindung und die Sensation, die entsteht. Deswegen versuche ich immer was zu finden, wo nicht nur der Körper der DarstellerIn sondern auch der Körper der ZuschauerIn involviert ist. Der Bühnentanz könnte jedes körperliche Thema verhandeln, aber er interessiert sich nicht wirklich dafür, dadurch, dass er so visuell geworden ist. Deswegen bin ich in die Performance ausgewandert. In CLASH (2016), meinem Performance Essay zum Orlando-Attentat, umarme ich am Schluss jede einzelne BesucherIn, nur eine Einzige hat es verweigert. Die Umarmungen mit allen anderen waren extrem intensiv. Weil vorher so viel passiert ist an Aufladung, nahmen die Leute den physischen Abschluss dankbar an.

 

UK: Ich hatte ein Erlebnis bei einer bulgarischen Performance, wo man mit verbundenen Augen herumgeführt wurde. Meine KollegInnen aus Berlin so: Das geht gar nicht, das ist die totale Überschreitung der eigenen Sicherheitsgrenze und Individualität.

CG: Es wird spannend, wie das nach Corona wird. Ich glaube nämlich, wie du sagst, dass die Tendenz, das rein als Grenzüberschreitung zu werten und das Performative daran zu übersehen, sowieso schon sehr stark ist. Was ich suche mit diesen performativen Formaten ist die Intimität unter Fremden. Am intensivsten ist das in Meet (2018), wo ich in einem kleinen Raum mit zehn ZuschauerInnen experimentell interagiere. In Affair (2019) gibt es gar keine eigene Spielfläche, sondern wir sind im und mit dem Publikum zugange.

 

UK: Worauf bist du stolz?

 

CG: Aktuell auf Go for it let go, das wir gerade fertig gestellt haben. Mitten im Lockdown, mit einem Konzept, das sich von Plan A nach B nach C nach D hantelte, Proben mit FFP2 Masken, mit Performerinnen, die einander davor nicht gekannt hatten. Wir streamen nicht. Die Protagonistinnen sind Frauen, die ich über einen Aufruf im Falter gefunden habe. In der Performance exponieren sie sich. Sie verdienen es, dass das Publikum sich den Aufwand antut, ins TQW zu kommen, um sichtbar und spürbar anwesend zu sein, wenn auch mit Abstand. Nur so ist es halbwegs fair. Gestreamt und am Laptop angeschaut wäre das wie Reality TV. Stolz bin ich auf die Arbeiten, die polarisieren und provozieren, und wo ich mich aussetze. Gar nicht so auf den Erfolg, sondern auf das Anfechtbare, das Verletzliche. Dazu stehe ich.

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