Gutachten

Foto: eSeL

Eine Analyse des Videos der Kunstaktion von Pussy Riot in der Christ-Erlöser-Kathedrale, Moskau, 21.Februar 2012

 

Nadja Tolokonnikova und Maria Aljochina von Pussy Riot wurden für ihr Punkgebet vom 21. Februar 2012 in der Moskauer Christ-Erlöser-Kirche wegen Hooliganismus zu zwei Jahren Straflager verurteilt. Hooliganismus beinhaltet definitionsgemäß Gewalt. Jedoch gab es im gesamten Ablauf ihrer Kunstaktion keine Gewalt, keine beabsichtigte und keine unbeabsichtigte.

Die Kunstaktion selbst dauerte 40 Sekunden. Ich habe mir zusammen mit einer Gruppe von vier Tänzerinnen und drei Tänzern das ungeschnittene Videomaterial dieser Aktion angesehen. Wir haben es Kader für Kader analysiert und alle Informationen, die wir von der Aktion bekommen konnten, in die Analyse einfließen lassen. Im Projekt DeSacre! stellen wir das Video performativ nach. Es geht darum, herauszufinden, was wirklich in der Kirche passiert ist, inwiefern Elemente der Entweihung und Schändung vorkommen, die den Frauen vorgeworfen wurden. Denn dass das Punkprayer-Musikvideo, das bereits ein paar Stunden nach der Aktion im Internet verbreitet worden war, durch den Schnitt und den unterlegten Song etwas Anderes darstellt und eine andere Atmosphäre erzeugt als der Auftritt in der Kirche, leuchtet jedem ein. Ein mediales Gutachten im Prozess gegen Pussy Riot hätte eine genaue Analyse des tatsächlichen Geschehens anhand des Videos erfordert, doch genau diese Beweisführung wurde im Keim erstickt. Die Analyse des Videos zeigt: Weder Gewalt, noch Zerstörung, noch religiöser Hass oder Blasphemie (weil es in Russland zum Zeitpunkt des Prozesses gegen Pussy Riot kein Blasphemie-Gesetz gab, wurde der Hooliganismus-Paragraf herangezogen) sind Elemente dieser Kunstaktion. Auch im Musikvideo fehlen diese Elemente, doch suggeriert die Dynamik des Schnitts und der Musik, dass es in der Kirche rauer zuging. Dass das Gegenteil der Fall ist, lässt sich mithilfe der Videoanalyse nachweisen.

Das Video eröffnet in dem Moment, als die Frauen bereits den Ambo, die Bühne des Pfarrers, erreicht haben. Sie ziehen ihre Mäntel aus, schalten einen Ghettoblaster ein und beginnen zur Musik eine Choreografie zu tanzen. Pussy Riot haben für den Zeitpunkt ihrer Kunstaktion keinen Gottesdienst gewählt, sondern einen gewöhnlichen Vormittag unter der Woche. Es sind daher fast keine Besucher da, nur ein paar Touristen, Wachmänner eines privaten Sicherheitsdienstes, Ikonenverkäufer und Kerzenputzer. Der Auftritt von Pussy Riot diente nicht der Provokation. Die Performance war eine genauestens konzipierte und durchdachte künstlerische Aktion, die den Ort des Geschehens – die größte Moskauer Kathedrale, deren Wiederaufbau als „größte Moskauer Geldwäscheanstalt“ bezeichnet wird – brauchte, um ihren Protest gegen die unheilige Allianz von Klerus und Staatsmacht auf den Punkt zu bringen.

Einige Sekunden nach Einschalten der Kamera werden die Wachmänner eines privaten Sicherheitsdiensts aufmerksam und laufen auf den Altar zu. Das Interesse der Wachmänner gilt zuallererst den Gegenständen. Der eine nimmt Katarina Samuzewitsch die Gitarre ab, der andere fordert von Nadja Tolokonnikova den Ghettoblaster ein. Katarina Samuzewitsch und Nadja Tolokonnikova lassen sich aufgrund der späteren Fernsehberichte über den Prozess, trotz der Sturmhauben, gut identifizieren, von den anderen Frauen weiß man die Identität nicht.

Bis hierher, bis zu diesem Moment, in dem Katarina Samuzewitsch von den Wachmännern festgehalten wird, ist die Sache noch so, wie man sie sich von den Prozessberichten und Anschuldigungen erwarten kann: Handgemenge, Stimmengewirr, Unruhe, die Wachmänner tun ihren Job. Der Kameramann versucht, die Szene, von der er nicht weiß, wie sie sich entwickeln wird, in den Fokus zu bekommen. Der Kameramann hat Angst. Er wurde vorher von den Frauen nicht über den Ort, an dem die Aktion stattfinden würde, und über den Inhalt des Protests informiert. Er war von ihnen gebeten worden, sie zu begleiten und ihre Performance zu dokumentieren. Als sie nach der Fahrt mit der U-Bahn bei der Christ-Erlöser-Kathedrale angekommen waren, hatte der Kameramann vermutet – wie er in einem Erinnerungsprotokoll schreibt – dass die Mädchen auf den Stufen vor der Kirche singen würden. Aber er hatte sich geirrt, die Aktion würde in der Kirche selbst stattfinden. Die Kamerabewegung dieser ersten Sekunden ist bestimmt von einer Mischung aus Angst und dem Versuch, im Laufen dem Geschehen zu folgen. Die Bilder sind verwackelt, der Kameramann reißt die Kamera herum, weil er nicht weiß, wo das Zentrum der Aktion ist, eine Kerzenputzerin fuchtelt mit den Händen vor dem Objektiv herum.

In diesen ersten Sekunden wird Katarina Samuzewitsch von zwei Männern arretiert. Es ist der einzige Moment in der gesamten Aktion, dass jemand gegen seinen Willen festgehalten wird. Paradoxerweise wird gerade wegen dieses Moments des Festgehaltenseins das Urteil gegen Katja Samuzewitsch später wieder aufgehoben werden, mit dem Argument ihrer Anwältin, dass sie an der eigentlichen Performance gar nicht mehr habe teilnehmen können.

Ich greife die Szene heraus, in der ein Wachmann Nadja Tolokonnikova den Ghettoblaster abnimmt. Hier liegt meines Erachtens der Schlüssel für die weitere gewaltfreie Entwicklung der Aktion. Es ist nämlich gar nicht so, dass der Wachmann das Gerät aus Tolokonnikovas Händen entwenden muss, sondern sie übergibt es ihm freiwillig. Für diese Geste hält sie nicht einmal in ihren Tanzbewegungen inne. Während sie dem Rhythmus der Musik, die man jetzt nicht mehr hören kann, weil der Ghettoblaster ohne Stromversorgung ist, treu bleibt, integriert sie die Übergabe-Handlung in ihre Choreografie.

Der weitere Verlauf des Geschehens ist von einer erstaunlichen Geschmeidigkeit auf beiden Seiten – Pussy Riot auf der einen und der Sicherheitsdienst auf der anderen Seite – geprägt, was sich beruhigend auf den Kameramann auswirkt. Die Frauen versuchen nun ohne Musikbegleitung die Choreografie ihrer Tanzschritte, so gut es geht, unisono auszuführen und den Refrain „Sran Gospodnya“ (Scheisse des Herrn) zu singen. Es ist eine Choreografie einfacher, direkter, leicht lesbarer Gesten. Gesten des Protests wechseln mit Gesten der Unterwerfung ab. Protest: Geballte Fäuste, Drohgebärden, attackierende Beingesten, Sprünge. Die Gesten der Unterwerfung sind in ironischer Übereinstimmung mit dem Liedtext gehalten und wirken als eine Art Zusammenschau universeller religiöser Gesten: eine weit ausholende unterwürfige Armbewegung nach unten zum Einleiten des Kreuzzeichens, eine Bewegung, die aber auch als Luftgitarrenbewegung durchgeht; das Kreuzzeichen im Stil der orthodoxen Kirche rechts beginnend und weit nach unten, zum Nabel hin; tiefe Verbeugungen auf den Knien wie in islamischen Gebetsformen.

Die Frauen wollen ihre Choreografie vor dem Altar ausführen, um gefilmtes Material für einen Musikvideoclip zu gewinnen. Dabei sind andere Menschen im Bild unerwünscht, vor allem Wachmänner. Aber anstatt die Wachmänner abzuschütteln, wenn diese ihre Performance zu unterbrechen trachten, entwinden sich die Frauen, um ein, zwei Meter weiter entfernt ihre Choreografie fortzusetzen. Diese Verteidigungsstrategie kennt man von asiatischen Kampfkünsten, vor allem vom Aikido: Anstatt dem Angreifer Paroli zu bieten, weicht man zur Seite aus, sodass der Angriff ins Leere geht.

Was uns beim Betrachten des Videos frappierte, sind nicht nur die elegant sich entwindenden Bewegungen von Pussy Riot, sondern auch die Reaktionen der eingreifenden Männer. Denn die Männer agieren alles andere als aggressiv. Man könnte ihr Eingreifen als etwas unsicher, vorsichtig, beinahe als fürsorglich bezeichnen.

Als erster versucht ein Messdiener die Vorstellung von Pussy Riot zu unterbrechen. Die eine Performerin, die er aufhalten will, entfleucht ihm. Er wendet sich der nächsten zu, legt sanft seine Hand auf ihre Schulter und geht empathisch mit ihren hüpfenden Bewegungen mit.

Eine andere Szene: Eine Performerin lässt sich von einem der Männer – es ist nicht ersichtlich, ob es ein Wachmann ist, oder der Elektriker, der gerade in dem Moment in der Kirche zu tun hatte – aus der Verbeugung hochheben. Sie leistet nicht einmal passiven Widerstand, sie kooperiert federleicht mit seinen Schritten. Beinahe einträchtig bewegen sich die beiden zusammen weiter, danach lässt er sie wieder los.

Die verblüffendste Szene kommt kurz danach und ist der Höhepunkt der Videodokumentation. Nadja Tolokonnikova macht ein paar Schritte zur Seite. Die Kamera folgt ihr und als ob es filmdramaturgisch vorgesehen wäre, kommt es zu einem Moment absoluter Ruhe. Auch der Kameramann ist nicht mehr hektisch und die Kamera bleibt völlig selbstverständlich sekundenlang auf die Aktion einer einzelnen Performerin gerichtet. Tolokonnikova führt zwei tiefe Verbeugungen aus, das dauert sieben Sekunden. Sieben Sekunden, in denen sie in aller Ruhe das Kreuzzeichen nach orthodoxer Art ausführt und sich ohne Hast zum Boden beugt, mit dem Gesicht nach unten. Sieben Sekunden, freiwillig, in einer völlig wehrlosen Position!

Nie reagieren die Frauen aggressiv oder widerstrebend, nicht einmal – und das ist das Bemerkenswerte – reflexartig. Sie führen ihre geplante Aktion aus. Sie haben keine Angst. Sie wissen, was sie tun. Dass die Kunstaktion so besonnen und gewaltfrei abläuft, dass die Wachmänner nicht überschießend reagieren, sondern so zurückhaltend, ist mit Sicherheit den jungen Frauen zu danken. Entgegen dem Vorwurf der reinen Provokation agieren sie mit einer Umsicht, die auf die Wachmänner ausstrahlt. Die Pussy Riot Frauen wissen instinktiv, wie man eine solche Situation in einer Kirche mit Respekt und Achtung handhabt. Als sie aufgefordert werden, die Kirche zu verlassen, laufen sie hinaus.

 

Dieses Gutachten wurde mithilfe eines performativen Reenactments erstellt und basiert auf dem Wissen zeitgenössischer TänzerInnen über körperliche Bewegung und menschliche Interaktion. Im Prozess gegen Pussy Riot wurde nie ein derartiges Gutachten erstellt. Der Prozess gegen Pussy Riot wurde eigentlich auch nicht im Gerichtssaal entschieden.

 

 

 

 

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